Ernst Barlach
Die Eindrücke der Russlandreise von 1906 erlösten Ernst Barlach aus einer tiefen künstlerischen Krise. Die radikale Vereinfachung der Form einerseits und die mystische Stilisierung andererseits führten ihn zu den ihm ureigenen Ausdrucksmitteln. Nicht nur seinen plastischen Werken, auch der Grafik, den Holzschnitten und Lithografien, teilte sich eine neu errungene Schlichtheit mit, welche, einhergehend mit einer Verallgemeinerung und Typisierung der Figur, die gleichzeitig wie von einer inneren Dynamik bewegt scheint. Auf die tief empfundene Not und die seelischen Erschütterungen seiner Zeit, auf die Entwurzelung der Moderne antwortete Barlach mit einer großen, alles Nebensächlichen entsagenden Form, einem archaisch wirkenden Menschenbild von ungeheurer Einbildungskraft und unbedingter Humanität.

Vita
1870 | geboren in Wedel, Kindheit im mecklenburgischen Schönberg und Ratzeburg |
1884 | Tod des Vaters |
1888-1891 | Studium an der Allgemeinen Gewerbeschule in Hamburg bei Michael Hornung und Richard Thiele |
1891-1895 | Studium an der Königlichen Akademie der Künste in Dresden, unter anderem bei dem Bildhauer Robert Diez |
1895-1897 | zwei längere Studien-Aufenthalte in Paris |
1897-1899 | Werkstattgemeinschaft mit Carl Garbers, plastische Giebelgestaltung am Rathaus Hamburg-Altona |
1904 | durch Vermittlung von Peter Behrens Lehrer an der Fachschule für Keramik in Höhr-Grenzhausen |
1906 | in tiefer künstlerischer Krise Reise zum Bruder Hans nach Russland bzw. in die Ukraine, die Reiseeindrücke geben den wesentlichen Impuls für die Vereinfachung und Stilisierung seiner Figuren |
1907 | Ausstellung der Terrakotten »Russische Bettlerin mit Schale« und »Blinder russischer Bettler« im Frühjahrssalon der Berliner Secession |
1909 | Stipendiat in der Villa Romana in Florenz |
1910 | Ansiedlung in Güstrow, Errichtung eines Wohn- und Atelierhauses am Inselsee |
Beginn von regelmäßigen Ausstellungen in Berlin, in der Secession, beim Sonderbund und im Kunstsalon von Paul Cassirer | |
1915 | im Ersten Weltkrieg Einberufung zum Landsturm |
1925 | Ehrenmitglied der Akademie der Bildenden Künste München |
1922 | Einweihung des Ehrenmals »Schmerzensmutter« in Kiel |
1927 | Gefallenen-Ehrenmal »Der Schwebende« im Güstrower Dom |
1929 | Ehrenmal im Magdeburger Dom |
1933 | »Pour le mérite« für Wissenschaften und Künste |
1936 | Ehrenmitglied der Wiener Secession und Ehrenmitglied des Künstlerverbandes Österreichischer Bildhauer der Akademie der bildenden Künste Wien |
1938 | gestorben in Rostock |
Er hat Bühnen- und Bildwerke geschaffen, alle ausgezeichnet durch eine höhere Schlichtheit; nur der geprüfte, umgetriebene Geist erlangt sie zuletzt. Erdgebunden war niemand weniger als dieser Künstler, der dennoch gelernt hatte, die stummen Wesen um ihn her redend zu machen und den Unbewußten ihre innigste Gestalt zu geben.
Heinrich Mann, Die größte Macht, 1938
Hinter der scheinbaren Armut der Barlachschen Ornamentalität lebt eine gestaltenreiche Fülle, wie sie heute nicht oft gefunden wird. Was gefühllos scheinen könnte, ist sehr oft das Resultat eines gewaltsamen Ausbruchs, was dem flüchtigen Blick wie unnatürliche Stilisierung aussieht, ist der innerlich gemusste Ausdruck eines unter der Dämonie seines Temperaments Erschaudernden, eines leidenschaftlich Aufschluchzenden, eines von der Schicksaldramatik des Alltags Berauschten.
Ernst Barlach, in: Kunst und Künstler, Jahrgang 8, 1909/1910
Das ist das, was wir das Einfache in der Kunst nennen. (...) Am Anfang war der Rhythmus, und dieser ist es, der den bloß zugeschnittenen Block des Körpers in den Ausdruck einer Lebenseinheit umsetzt. Dieser Körperrhythmus ist es, der die Körperbewegung nicht als eine Mechanik der Glieder herausstößt, sondern als Willensfunktion den ganzen Körper durchzieht. Der Wüstenprediger ist ganz Vertikale, der Spaziergänger ganz Diagonale - hier ist der Rhythmus des Körpers Stimmgabel des Lebens.
Ernst Barlach, Berlin: Henschelverlag 1989